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Urzustände, erste Menschen

Christoph Peters

 

Sagen wir, es ist nichts da, wie immer vor dem Anfang nichts da ist, wüst und leer, die Szenerien in abwesendem Licht, das keine Dunkelheit kennt, darüber Schwebezustände des Unbekannten. Jede Möglichkeit kann verwirklicht werden, auch wenn nirgends Raum ist, nicht Himmel, nicht Erde, weder Land noch Wasser, aber es wird geschieden auf der ebenen Fläche, die sich ausdehnt – waagerecht und senkrecht, horizontal und vertikal: hell von dunkel, Schärfe von Unschärfe, Farbe von Nicht-Farbe, Materie von Energie von Form. Dann tatsächlich der Einbruch des Lichts, damit etwas in Erscheinung treten kann, im selben Moment, abgegrenzt und als solche erkennbar: Finsternis. In ihr wohnt die Furcht. Es gibt Gewölbe, oberhalb, unterhalb, Durchbrüche, Höhlungen, aufgefaltet, verkrümmt, geschichtet. Vorstufen von Landschaft, Seen, Meere, Ozeane, gefüllt mit Urstoff, aus dem sich lösen und zusammenfügen wird, was erdacht wurde, ehe das Denken begonnen hat.

Damit ist die Zeit ins Werk gesetzt, deren Anfang ebenso unvorstellbar erschienen war, erscheint, erscheinen wird wie ihre Anfangslosigkeit. Erst jetzt kann das Eine aus dem Anderen hervortreten, fließende Übergänge vom vorher ins nachher, permanenter Wandel sämtlicher Strukturen, unablässiger Austausch aller Substanzen, nirgends ein Halten. Nur innerhalb der Ausdehnung eines Punkts wäre vollständige Erstarrung noch möglich, würde nicht jeder von ihnen für sich in seine eigenen Schächte aus unendlich aufgefächerten Abgründen stürzen. Bis zum Ende, das so unvorstellbar ist wie der Anfang, wird nicht der geringste Bruchteil von etwas je wieder still stehen.

 

Abend und Morgen. Erster Tag.

„Nimm einen Platz ein.“

Von hier nach dort wandert der Blick, überbrückt eine Handbreit, einen Fuß, eine Elle, zunehmend Abstände jenseits des eigenen Maßes, stößt an Ränder, setzt Markierungen, um nicht verloren zu gehen, vergewissert sich seiner selbst, schaut erstmals zurück, noch ohne Erinnerung.

Wir sind längst mitten drin. Scharf angestrahlt werfen wir Schatten in jede Richtung. Vor uns allenfalls eine unbestimmte, auf wenig mehr als Mutmaßungen beruhende Vorstellung dessen, was nicht da ist, nie da war, keine Spur der Abwesenheit selbst, nur das rückblickende Bild auf die äußerste Vorvergangenheit, als die entscheidenden Anstöße gegeben wurden, aus denen all das werden sollte, was war und noch kommt.

Du, ich, wir. Ratlos, unwissend.

Wir waren nicht gut.

Sagen wir eine Stimme.

„Sprich mit mir.“

„Ich stelle mir vor, wir wären Menschen an diesem Ort, der kein Ort ist, nur eine leichte Wölbung, eine Kuppe, die sich aus dem Uferlosen erhoben hat. Wir sind die ersten, fortgeschafft aus dem Vorherigen, wo alles schon einmal war, uns zuliebe eingerichtet, schön anzusehen, wohlriechend, die Flüssigkeiten von süßem Geschmack, wohlgestaltete Wesen, uns und einander freundlich gesonnen. Hier aber sind die Verhältnisse anders.“

„Nimm meine Hand.“

Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Fleisch, Haut, Haare. Fingernägel.

„Das, was ich spüre, kommt mir unbekannt vor.“

 

Um uns herum, hinter undurchdringlichen Schleiern gurgeln heiße Quellen, Schlammfontänen, Schwefel tritt aus, tief darunter tektonische Verwerfungen, knirschende Platten in unaufhaltsamer Drift. Mineralien und Metalle verbinden sich, setzen weitere Kräfte frei, Kristalle, Gesteinsformationen blühen aus, bilden Stalagmiten, Stalagtiten, zerklüftete Massive, Gebirgszüge werden aufgetürmt, fallen in sich zusammen.

„Gib allen Dingen Namen: Calizumcarbonat, Natriumchlorid, Kupfervitriol.“

Von dort, wo der Horizont wäre, Donnergrollen, elektrische Entladungen, das Aufzucken irisierender Blitze, die vom Aufgang im Osten bis zum Untergang im Westen reichen. Unvorstellbare Atmosphäremassen werden auseinander gerissen. Für Augenblicke tun sich Zwischenräume auf, in denen Künftiges erscheint, ohne je wirklich zu werden.

„Wir müssen sehen lernen, hören, riechen, schmecken, fühlen, während die Formen aushärten, Umrisse sich verfestigen.“

Reine und gemischte Stoffe, Vorstufen von Dingen bilden Ordnungen aus, werden angezogen, abgestoßen, amalgamiert. Spaltprodukte, Zerfallsprozesse schon im Entstehen. Bitterkeit und Schärfe in dem, was „die Luft“ heißt, zahlreiche Substanzen, die schlecht bekömmlich sind. Uns wird unwohl in unserer Haut, oben ist es zu heiß, unten zu kalt, links zu feucht, rechts zu trocken.

„Rechne mit dem Schlimmsten, gewöhne dich an den Gedanken von Gift.“

Nirgends ein Ausgang.

Alles was wird, spiegelt uns, wir spiegeln uns in allem. Mein Gesicht, ihr Gesicht, sein Gesicht, dein Gesicht. Einen Moment lang erkennen sie sich, erkennen wir uns, inmitten der vollkommenen Fremde, sind greifbar und eine ganze Welt von einander entfernt, nur die Stimme, jetzt schon vertrauter, zwei Hände, die einander innewerden.

„Sag mir in welche Richtung wir uns wenden, wo wir uns niederlassen, mit welchen Füßen auf welchem Grund, wenn alles um uns herum ungesichert ist, bevor wir es erreichen, bereits wieder aufgehört haben kann, zu sein, was es war.“

Wir setzen Schritte, einen nach dem anderen, zögernd, bang, auch wenn der Boden um uns herum nicht fest ist, wir den Grund unter unseren Füßen nicht kennen.

„Versuche dich zu erinnern.“

In den Rissen des Gewölbes, das wir jetzt „Himmel“ nennen, scheinen immer öfter Bilder auf, die uns vertraut sind. Tropfen durchschlagen Oberflächen aus flüssigem Silber, aus Blei, breiten sich aus, verfestigen sich, darüber Luftspiegelungen unserer Herkunft, die es niemals gegeben hat. – Es hat sie gegeben. Die Ebenen, die wir betreten, tragen zunehmend besser, wir sinken nicht länger bei jedem Schritt ein, heben den Kopf, werfen Blicke nach vorn, durchmessen die Gegend um uns herum. Hoch über uns Durchbrüche ins Schwarz, aus der Mitte des Schwarz heraus. Dorthin hat sich das Unbekannte verflüchtigt: hinter die Grenze von allem, was wir benennen können. Gleichwohl ist es da.

Wir folgen einem Weg, den es nicht gibt.

„Sag, was du siehst.“

Schnee und Rauschen, verwischte Flächen, die sich von Innen her füllen, gefüllt werden, Umrisse bilden, Gestalt annehmen. Erstmals wärmendes Licht über uns. Etwas von dem, was wir „Bäume“ genannt hatten, bricht durch vorgelagerte Flächen. Berge und Täler.

„Weißt du noch?“

Wurzeln durchziehen das feuchte Erdreich. Äste und Zweige verflechten sich mit atmosphärischen Rinnsalen. Es wächst, treibt aus, ergrünt. Jedes Blatt findet seine Negativform. So stellt sich die Ahnung ein, was ein vollständiges Bild wäre. Wald, belebt und schattig, darin zu verweilen. Klare Wasserläufe und Sumpfkulen. Im Rauschen des Laubs ist klarer als irgendwo sonst zu hören, wie die Stille sein könnte. Wir werden sicherer. Was vor uns liegt, läßt sich begehen, greifen, nutzbar machen für eine Art Leben.

„Wie ein Teil von mir ist deine Hand in meiner geworden.“

Aber wir müssen uns trennen und die Arbeit beginnen. So wie es ist, kann es nicht bleiben, dafür sind wir zu fremd hier. Wir nehmen alles, was vor uns liegt, in Besitz. Wenn es nicht reicht legen wir Knüppeldämme, dorthin, wo es weder vor noch zurück gibt, und holen, was fehlt. Tag für Tag schöpfen wir Wasser in löchrige Fässer, bis die Sümpfe trockengelegt sind. Aus den Stämmen der Bäume bauen wir Hütten, gedeckt mit Schindeln von gebranntem Ton zum Schutz vor den Welten, die noch immer über unsere Köpfe hinwegziehen. So lernen wir die Erschöpfung kennen, die Müdigkeit und nennen sie „rechtschaffen“. Wenn die Nacht kommt, hüllen wir uns in Decken aus gestampftem Tierhaar, das wir von scharfen Rinden, von Dornbüschen gesammelt haben, und frieren nicht mehr. Unter dem Schutz des Dachs wird auch die Furcht vor dem Dunkel am Ende verschwinden.

„Schließ jetzt die Augen.“